Miriam, du hast uns gezeigt, dass es in deiner Arbeit um Machthierarchien geht, um ein normatives Verständnis von was richtig und was falsch ist. Auf deinem LinkedIn-Profil steht das Zitat: „Kämpfe für die Dinge, die dir wichtig sind, aber kämpfe so, dass sich dir andere anschließen wollen“. Ruth Bader Ginsburg hat diesen Satz gesagt und du hast ihn in deinen LinkedIn-Header genommen. Du willst ja auch die Menschen erreichen, die noch nicht in diesen „erschöpften Räumen“ sind, die sich mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben oder vielleicht auch deine Meinung im Moment noch nicht teilen. Wie kämpfst du denn, dass andere Menschen sich anschließen? Wie macht man das?
Du hast total recht. Also am allerliebsten möchte ich natürlich in die Räume, in denen man nicht mit mir rechnet. Räume, in denen man nicht denkt, dass ich ein Angebot machen könnte, das interessant ist oder in denen meine Perspektive nicht relevant zu sein scheint. Das sind die Räume, in die ich primär möchte.
Empowerment und Fokus auf den Fortschritt
Aber es ist mir auch klar, dass in den Räumen, mein Angebot oder das Angebot, die Kinderrechte machen, bereits wahrgenommen wird, dass es da auch darum geht zu empowern. Und zwar im Sinne von: Wir haben ein Grundgesetz, wir haben in allen Landesverfassungen Kinderrechte, wir haben Bildungs- und Erziehungspläne, wir haben ein starkes SGB VIII und so viel weiteres, was euch eigentlich die Option gibt, sehr viel von dem, was euch wichtig ist, was euch relevant ist, von dem ihr wisst, dass es gut und wahrhaftig ist, umzusetzen.
Und an der Stelle auch zu politisieren und zu sagen, das was ihr macht, also alle Menschen, die Care-Arbeit leisten, beruflich und als Eltern, machen was total Politisches. In diesen Räumen ist es wichtig für mich zu politisieren, zu empowern und Mut zu machen und auch unter Umständen mal nach hinten zu schauen und wahrzunehmen, wir haben in den 30 vergangenen Jahren auch verdammt viel erreicht:
Wir haben seit 2000 ein Recht auf Aufwachsen frei von Gewalt. Wir haben ein neues, inklusives SGB VIII. Da passiert so viel Gutes. Der Gesetzgeber macht sich so viele nachhaltige und sinnvolle Gedanken.
Wir reden immer über diese Umsetzungsdefizite. Das heißt, wir brauchen mehr Menschen, die wissen, wie das handwerklich umzusetzen ist und die auch verstehen, dass die Kontexte, in denen sie unterwegs sind, hochpolitisch sind und sie auch diese politischen Räume besetzen und belegen müssen.
Für kinderrechtliche Perspektiven werben
In den anderen Kontexten geht es für mich darum, für diese kinderrechtliche Perspektive zu werben. Also den kinderrechtlichen Gedanken zu vermitteln und damit verbunden die vier Grundprinzipien,
- das Recht auf Nichtdiskriminierung,
- das Recht auf Leben und Entwicklung,
- das Recht auf Beteiligung und
- den Vorrang des Kindeswohls, d
Darin stecken Möglichkeiten, die Gesellschaft, aber auch um Organisationen neu zu denken.
In meiner Tätigkeit vorher war ich zuständig für 12 Kindertagesstätten. Das erste, was ich gemacht habe, als ich diesen Fachdienst übernommen habe, war eine Weiterbildung zur Fachkraft für Kindszentrierung. Also eigentlich genau das, was ich nicht mehr machen sollte, weil ich ja gar nicht mehr konkret mit Kindern gearbeitet habe. Aber für mich ging es darum, die Perspektive von Kindszentrierung und die damit verbundenen Aspekte mit in das Arbeiten mit Erwachsenen, also in die Organisationsentwicklung zu überführen und Prinzipien zu finden, mit denen ich das übertragen kann.
Wir können davon ausgehen, dass die Bedarfe und die Bedürfnisse auf beiden Ebenen häufig ganz ähnlich sind. Dass wir mit den Menschen arbeiten sollten und nicht gegen sie. Und das bedeutet eben auch Kindszentrierung oder Menschenzentrierung. Und ich nenne es heute kinderrechtebasierte Organisationsentwicklung. Und das ist das, was ich dann in diesen anderen Räumen mache.
Wenn wir Kindern und Jugendlichen ermöglichen, Bildungswege einzuschlagen, unabhängig von ihrer Herkunft, dann schaffen wir es nicht nur für Individuen, eine Zukunft zu denken, zu entwickeln und eine gute Gegenwart zu leben, sondern wir haben auch ganz viele präventive Aspekte, die wir damit in den Blick nehmen.
Weil wir natürlich wissen, dass junge Menschen, die zum Beispiel keinen Schulabschluss schaffen, ganz hohe Korrelation mit anderen Gefahren haben, wie zum Beispiel Suchterkrankungen, psychischen Erkrankungen. Also ganz offensichtlich Dinge! Wenn wir die fokussieren, können wir mit dieser Perspektive gelingendes Aufwachsen ermöglichen und auch für die Gesellschaft so viel erreichen.
Jetzt hast du gerade die Kindkonzentrierte Organisationsentwicklung angesprochen. Das ist sehr, sehr spannend. Vielleicht kannst du ein bisschen konkreter werden. Wie genau kann das aussehen? Was bedeutet das für ein Unternehmen zum Beispiel, das sich demnach ausrichten möchte?
Also wenn wir mal gucken, wie ist das eigentlich für den Menschen, einen Tag lang in einer Institution, in einer Organisation oder wo auch immer zu verbringen – das ist der Ausgangspunkt der Überlegung. Ein Mensch in einer Organisation, Kind oder Erwachsene, was brauchen die Personen? Dabei geht es immer um zwei Pole:
Einmal sozusagen das Gefühl von Individualität. Ich bin so wie ich bin, okay. Ich bin im Prinzip richtig.
Aber auch das Gefühl von Zugehörigkeit, hier wo ich bin, kann ich mitgestalten. Ich fühle mich verbunden. Ich habe das Gefühl von Zugehörigkeit auch im Sinne von „Ich kann Verantwortung übernehmen und Veränderung herbeiführen“. Dafür braucht es Erlaubnisse. Also der Organisation wird zugemutet oder zugetraut, dass sie zulässt, dass Menschen sich verändern dürfen. Die Organisation überlegt sich, dass es Teil von Entwicklung ist, dass es Herausforderungen gibt, aber gleichzeitig übernimmt sie Verantwortung dafür. Ich erlebe eine Herausforderung, aber ich bin auch zuversichtlich, dass ich diese Herausforderung meistern kann. Und wenn ich merke, ich kann es nicht, dann darf ich mir Hilfe und Unterstützung holen.
Individualität und Gemeinsamkeit als Pole
Und das ist, was Kinder im Kita-Alltag jeden Tag erleben. Die verbringen da eine nicht unerhebliche Zeit ihres Tages. Die kommen in Aushandlungsprozesse mit anderen Kindern, aber auch mit Erwachsenenpersonen. Und das ist fast dasselbe wie das, was die Erwachsenen erleben. Die gehen dorthin zum Arbeiten, die verbringen da einen großen Teil ihres Tages. Und natürlich müssen die sich auch verbunden fühlen, aber sie müssen auch das Gefühl haben: So wie du bist, bist du in Ordnung und du darfst dich hier verändern und entwickeln.
Das sind die Kerngedanken, die darin stecken, gemeinsam als Teil von der Organisation Veränderungsprozesse miteinander zu gestalten.
Der einzige essenzielle Unterschied ist, Erwachsene sind da im Kontext von Lohnarbeit, es gibt einen Arbeitsvertrag. Ich muss also festlegen, was ist denn die Mindestanforderung an eine erwachsene Person, die hier beruflich tätig wird? Und was wir in diesen sozialen Kontexten häufig tun, aber ich glaube auch in anderen, bei den sozialen weiß ich es nur sehr viel genauer, ist, wir reden über Visionen und nicht über Standards. Und ich glaube, für Personen und für Menschen ist beides total wichtig.
Also es muss eine Idee geben, wo wir gemeinsam hinwollen. Aber es muss auch die verbindlichen und verlässlichen Standards geben, die Halt und Orientierung anbieten. Und genau das braucht es auch für Kinder genauso wie für Erwachsene: Eine Klarheit in der Anforderung, der Herausforderung im Arbeitsauftrag, aber auch eine Idee von wo wollen wir gemeinsam hin. Und deswegen bin ich einerseits auch dafür, dass wir mehr darüber reden: Was sind denn eigentlich unsere unveräußerlichen, unsere verbindlichen gemeinsamen Standards, wo gehen wir nicht runter.
Und für Kinder kann das heißen, ich renne nicht aus der Kita raus und ich bleib an der Ampel stehen, wenn ich mit der Gruppe unterwegs bin. Und für die erwachsenen Personen muss es das bedeuten, alle Aspekte von Kinderschutz zu berücksichtigen, also zu wissen: Ich zwinge Kinder nicht, was zu essen. Ich ziehe Kinder nicht gegen ihren Willen auf meinen Schoß und so weiter. Und an der Stelle Verantwortung zu übernehmen.
Aber gleichzeitig auch zu wissen, ich darf mich hier entwickeln, ich darf mich verändern und ich muss nicht direkt alles perfekt können und beherrschen.
Lies den dritten Teil des Gespräches hier.