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Miriam Zeleke ist Landesbeauftragte für die Förderung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Hessen. Sie bringt Kinderrechte aufs politische Parkett mit Haltung, Klarheit und ganz viel Humor. Auf Social Media kommuniziert sie ihre Arbeit offen, nahbar und kraftvoll. Sie spricht über Erschöpfung und Verantwortung, über Räume der Beteiligung und darüber, was passieren muss, Politik nicht über, sondern mit jungen Menschen gemacht wird. In dem heutigen Gespräch geht es um Kommunikation als politische Praxis, um Empowerment, jenseits von Buzzwords und um die Frage, wie wir eine Gesellschaft gestalten, in der Kinderrechte kein Add-on sind, sondern ein klarer Ausgangspunkt.

Miriam, du setzt dich mit beeindruckender Klarheit und Energie für Kinderrechte und für Beteiligung ein. Und das machst du zum einen im politischen Alltagsbetrieb, aber auch sehr persönlich und öffentlich über soziale Netzwerke. Was würdest du sagen, was war der Moment, der dich auf diesen Weg gebracht hat?

Ich habe irgendwann mal im Studium der Erziehungswissenschaften nach der Geburt meiner Tochter über die Seminarrestplatzbörse ein Seminar besucht: „Forschen mit Kindern“. Ich wäre da eigentlich niemals reingegangen, weil das sehr aufwendig war, aes blieb mir nichts anderes übrig. Meine Tochter ist im Oktober geboren. Ich musste nehmen, was übrigblieb, nachdem ich die ersten zwei Wochen des Semesters nicht die Uni besuchen konnte. Und in diesem Seminar habe ich verstanden, dass alle gesellschaftlich relevanten Diskurse, soziale Ungleichheit, Identität, Geschlecht, Machtverhältnisse, Strukturen und so weiter und so fort in der Lebensphase Kindheit pointiert vorkommen und relevant sind.

Kindheit als Ausgangspunkt für gesellschaftliche Transformation

Kinder sind immer aus dem gleichen Material, Haut, Knochen und so weiter. Wie Kinder aufwachsen hat viel mehr was damit zu tun, was wir über die Lebensphase Kindheit denken, wie wir sie gestalten, welche Rahmenbedingungen wir geben. Kinder oder wie Kinder aufwachsen ist im Grunde immer auf der Kultur und Zeitachse zu verorten. Mir ist damals klar geworden, dass wenn man die Gesellschaft gestalten möchte, mit einer Vision einer guten Gesellschaft für alle, dann über den Diskurs der Kindheit und damit auch über die Kinderrechte.

Das heißt, wenn wir von Transformation sprechen, von Wandel, von einer zukunftsfähigen Gesellschaft, müssten wir Kindheit immer mitdenken. Aber das tun wir nicht. Ist das ein Blindspot bei diesem ganzen Narrativ rund um Transformation? 

 Ja, also für mich als Kinderrechtelobbyistin bedeutet das, dass wir nicht nur Kindheit mitdenken müssten, sondern den Vorrang des Kindeswohls zum Ausgangspunkt machen sollten. Wir müssen anerkennen, dass Kinder Teil der Gesellschaft sind, die ganz einfach auch Menschenrechte haben, und nochmal einen besonderen Schutz bedürfen. Nur so lange funktioniert eine Gesellschaft.

Wenn wir Kindheit als Vision denken und die Frage damit verknüpfen: Wie können wir eine Gesellschaft schaffen, die für Kinder und Kindheiten in der Gegenwart und in der Zukunft lebensfähig und lebenswert ist, die ein gelingendes Aufwachsen ermöglicht? Dann, glaube ich, kommen wir gut vom Fleck.

Was uns Räume über Haltung sagen

Gleichzeitig sprichst du aber häufig auch von, „Erschöpften Räumen“, in denen sich unsere Kinder aufhalten. Was genau meinst du damit und was sagt das über uns als Gesellschaft?

In meinen beruflichen Kontexten bin ich häufig da, wo man schon von Kinderrechten überzeugt ist. Da, wo man für sich begriffen hat, was das besondere Potenzial von einem Ausrichten nach gelingendem Aufwachsen, nach Kindeswohlvorrang, Beteiligungsrechten und so weiter ist. Damit verbunden ist ja auch Kinderschutz. Und diese Räume erlebe ich in der Regel als erschöpfte Räume. Da sind 100 erschöpfte Erzieher:innen beim Fachtag, 100 erschöpfte Netzwerkoordinator:innen, 100 erschöpfte Lehrer:innen…

Da sind aber häufig nicht nur die Personen in den Räumen erschöpft, sondern auch die Räume selbst sind erschöpft. Das sind häufig Räume, die stark sanierungsbedürftig sind. Räume mit einer Verpflegung, bei der andere eher die Nase rümpfen. Da gibt es dann beim Fachtag am Mittag ein dürftiges Süppchen und eine Kaffee-und-Kuchen-Verpflegung, aber sonst nichts mehr.

Diese Räume, in denen Kinder sich mit den Erwachsenenpersonen, die sich um die Aufwachsensbedingungen von Kindern bemühen, aufhalten, das sind in der Regel Räume, denen man anmerkt, dass sie wenig Ressourcen zur Verfügung haben. Und das ist für mich ein Kennzeichen dafür, welchen Stellenwert Kindheit und Jugend als Lebensphase in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung haben.

Adultismus und das Prinzip der Verletzlichkeit

Wir benutzen dafür den Begriff Adultismus. Also die Benachteiligung einer Gruppe – in diesem Fall jüngerer Menschen – aufgrund ihres Jungseins. Das funktioniert wie alle anderen -Ismen über Zuschreibung. Wir reden dann häufig über „Werdende“, also Kindheit als Zukunftsprojekt. Damit wird die auch die Verantwortung in die Zukunft verlagert. Die Verantwortung über die Räume, Möglichkeiten der Beteiligung, der Inanspruchnahme und der Ressourcen… Und das macht sich dann in diesen Räumen auch nochmal so bemerkbar, dass wir in adultistischen Strukturen leben. Strukturen, die eben nicht verstanden haben, dass Kindeswohl als Vorrang zu denken, eigentlich ein Potenzial für sehr, sehr, sehr viele Menschen sein kann und sollte. 

Aus einer rein theoretischen Perspektive ist es ja eigentlich auch logisch: Wenn wir über eine gute Zukunft für alle sprechen wollen, dann müssen wir an die Menschen denken, die vor allen Dingen diese Zukunft erleben und gestalten werden. Und das sind die, die jetzt noch in ihrer Kindheit oder vielleicht sogar ungeborenen sind. Wieso gibt es trotzdem diesen Adultismus? Was ist die Ursache für diese erschöpften Räume?

Das sind Strukturen und Gedanken, die einfach schon wahnsinnig lange so gewachsen sind. Da geht es, im Prinzip und im Kern darum, dass wir als Gesellschaft Vulnerabilität, also Verletzlichkeit nicht zum Gesellschaftsprinzip erklärt haben. Dass wir nicht anerkennen, dass Verletzlichkeit nichts ist, was uns als Gesellschaft schwächt, sondern was uns als Gesellschaft kennzeichnet und ausmacht.

Es gibt diese Vorstellung von einem Erwachsenen-Normbewusstsein. Diese Vorstellung dethematisiert, dass es viel mehr Bewusstseins gibt, als nur diese eine erwachsene Normvariante von Bewusstsein.

Und ich glaube, dass dahinter eben genau diese Kräfte und Mächte stecken, die gerne ein spezifisches Bewusstsein prägen wollen – die eine spezifische Art und Weise zu sein, mit spezifischen Vorstellungen von Leistung und Wachstum. Und das sind die Mächte, die verhindern, dass wir als Gesellschaft dazu kommen, Vulnerabilität als unser Gesellschaftsprinzip und damit auch unsere Stärke anzuerkennen.

Lies den zweiten Teil des Gesprächs hier und den dritten Teil hier.